Vor vielen Jahren, als ich mir mein Studium noch als Texter in der Werbung verdiente, wurde uns zur Übung einmal eine äußerst knifflige Kreativaufgabe gestellt. Um unsere Werber-Hirne ganz auf Storys zu trimmen, die in Menschen angenehme Gefühle auslösen, sollten wir uns am schier Unmöglichen versuchen. Die Aufgabe lautete: „Vermitteln Sie den Passagieren der Titanic den Untergang des Schiffes auf positive Art und Weise.“

Ich weiß nicht mehr, was ich geschrieben habe. Besonders originell kann es also nicht ge­wesen sein. Nie vergessen werde ich allerdings, was ein Kollege schrieb, zurecht Kreativchef seines Teams und einer der besten Texter, die mir in der Frankfurter Werbeszene damals begegnet sind. Er ließ den Titanic-Kapitän verkünden: „Liebe Passagiere, wir setzen unsere Reise in wenigen Minuten unter Wasser fort.“

 

Wow, das klingt doch gleich ganz anders, oder? Viel besser als: „Sorry Leute, wir saufen ab.“ Nein, wir sinken nicht. Wir setzen unsere Reise unter Wasser fort! Läuft auf dasselbe hinaus, hört sich aber viel besser an. Eine Unterwasser-Reise – da entstehen schöne Bilder im Kopf. Das klingt nach Entdeckungsfahrt, nach Spaß und Abenteuer, nach einer Reise, die man nur einmal erlebt. Darauf freut man sich. Und das Beste an dem Spruch: Er ist noch nicht einmal gelogen. Die Titanic setzte ihre Reise tatsächlich unter Wasser fort. Zynisch? Auch das nicht. Denn wenn die Menschen schon dazu verurteilt waren, ins eiskalte Nordmeer hinab­gerissen zu werden, wäre es da nicht besser, wenn sie gut gelaunt in die Tiefe rauschten?

 

Die Klimakrise hat den ganzen Planeten in eine Titanic verwandelt. Wer den Hollywood-Streifen mit Leo DiCaprio und Kate Winslet gesehen hat, der hat das Bild vermutlich noch vor Augen: Wie das Schiff hoch aufgerichtet im Wasser steht. Der Eisberg hat den Rumpf aufgeschlitzt. Über Stunden ist Wasser einge­drungen und hat Deck um Deck geflutet. Jetzt ragt nur noch das Heck aus dem Nordatlantik. Fast sieht es aus, als könne der Luxusdampfer so für immer auf der Oberfläche balan­cieren. Die Bordband spielt weiter fröhliche Lieder. Bis der Kipppunkt erreicht ist. Das Schiff zerbricht und schießt, von jetzt auf gleich, hinunter in die Dunkelheit. Genauso muss man sich das wohl mit dem Raumschiff Erde vorstellen.

 

Auf unserer Reise zu mehr Freiheit und Wohlstand kam uns irgendwann der Eisberg „Erderwärmung“ in die Quere. Touchiert haben wir ihn genau genommen schon vor rund 250 Jahren mit Beginn der Industrialisierung. Lange Zeit waren die Veränderungen für uns Passagiere, vor allem oben, in der ersten Klasse, kaum spürbar. Die Natur konnte das Gleichgewicht halten. Inzwischen nähern wir uns den Kipppunkten.

 

Was es für uns Menschen bedeutet, falls sie erreicht werden, in welche Richtung die Erdbewohner ihre Fahrt dann fortsetzen werden, beschreibt Marie-Luise Wolff, Vorstands­vorsitzende des Energieunter­nehmens Entega AG in Darmstadt und Präsidentin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft, in ihrem Buch „2,8 Grad – Endspiel für die Menschheit“ sehr eindringlich: „Vor allem in drei Erdsphären macht sich bemerkbar, was verkürzt ‚die Klimaerwärmung‘ genannt wird. Die Atmosphäre, also die Lufthülle, die die Erde umgibt, verändert sich durch Gaspartikel­belastung sowie eine massive Erwärmung bis in Temperaturzonen, die für menschliche Organismen lebenskritisch sind. Dazu der Ozean als Teil der Hydrosphäre, der große Teile des CO2-Überflusses der Menschen auffängt, sich dabei aber ebenfalls deutlich erwärmt, mehr und mehr versauert und seine Auffangfähigkeit verliert. Und schließt die Kryosphäre, das heißt alle Formen von Eis auf die Erde, die begonnen haben, sich aufzulösen und deren komplettes Schmelzen zu einem rapide ansteigenden Meeresspiegel mit extremen Auswirkungen auf die Bewohn­barkeit der Erde führen würde. Alle drei Sphären arbeiten als eng verflochtenes System zusammen und beeinflussen die fundamentalen Voraussetzungen für die Bewohnbarkeit der Erde.“1

Durch die Verbrennung fossiler Rohstoffe – Kohle, Öl und Gas – sowie die Umwandlung von Wald in landwirtschaftliche Nutzfläche wurden nach Berechnungen von Wissenschaftlern zwischen 1850 und 2022 unvorstellbare 2.492 Gigatonnen Kohlendioxid (CO2) in die Atmosphäre freigesetzt.2 Eine Gigatonne, das sind eine Milliarde Tonnen: 1.000.000.000 t.

Im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter ist die globale Durchschnittstemperatur dadurch bis heute bereits um rund 1,4 Grad Celsius gestiegen. Klingt nach wenig, macht aber einen großen Unterschied. Die Zahl der wetterbedingten Katastrophen hat sich in den zurück­lie­gen­den fünfzig Jahren verfünffacht. Hitzewellen, Dürren, Wirbelstürme, Überschwemmun­gen, Waldbrände: die Schlagzeilen häufen sich und die Einschläge kommen näher. Mehr als zwei Millionen Menschen kamen zwischen 1970 und 2019 durch wetter- und klimabedingte Verheerungen ums Leben.3 Ein Großteil davon von uns im reichen Norden unbemerkt auf dem planetaren Unterdeck, dem sogenannten Globalen Süden. Frauen und Kinder zuerst!

Hinzu kommen Umweltveränderungen, die meist als „schleichend“ bezeichnet werden, die aber in jüngerer Vergangenheit an Dynamik gewonnen haben: steigende Meeresspiegel, versalzende Böden, schmelzende Gletscher, sinkende Grund­wasserstände, wachsende Wüstengebiete, rapide abnehmende Artenvielfalt ­– eine Katastrophe für sich.

Besonders hart trifft es das Leben in den Ozeanen. Die Weltmeere bedecken etwa 70 Prozent der Erdoberfläche und speichern bis zu 93 Prozent der Wärme, die durch Sonnen­strahlung auf der Erde entsteht. Außerdem haben sie etwa 25 Prozent der CO2-Emissionen aufgenommen, die der Mensch seit der Industrialisierung in die Atmosphäre entlassen hat.4 Das hat schwerwiegende Auswir­kungen auf die Meereschemie. Der mittlere pH-Wert der Meeresoberfläche ist seit dem Jahr 1860 von 8,2 auf 8,1 gesunken. Dieser vermeintlich kleine Schritt auf der logarithmischen pH-Skala entspricht einem realen Anstieg des Säure­gehalts um 26 Prozent, eine Veränderung, wie sie in den letzten Jahrmillionen nicht vorkam. Mittlerweile wird das Versauerungssignal in Tiefen von bis zu 2000 Metern gemessen.5 Den Weltmeeren und ihren Bewohnern geht buchstäblich die Luft aus. Dafür fanden Taucher 2018 am tiefsten Punkt der Erde, auf dem Grund des Marianengrabens, eine Plastiktüte.

Auch das Wattenmeer ist vor den Folgen der Klimaveränderung nicht gefeit. Wattflächen, Salzwiesen, Strände und Dünen könnten bei einem weiter steigenden Meeresspiegel durch Abbruch verloren gehen. Sturmfluten könnten an den Küsten höher auflaufen und nicht nur das Weltnaturerbe mit seiner einzigartigen Flora und Fauna gefährden, sondern auch Menschenleben. Schon seit geraumer Zeit richten sich die deutschen Küstenregionen darauf ein, dass der Meeresspiegel bis 2100 um rund einen Meter steigen wird und verstärken ihre Küstenschutzmaßnahmen. Dieses Jahr investierten das Land Niedersachsen und der Bund rund 80 Millionen Euro in die Sicherheit der Küstenbewohner. Das meiste Geld floss in die Bauprojekte der Hauptdeichverbände zwischen Dollart und Elbe. Fast 16 Millionen Euro waren für die Ostfriesischen Inseln vorgesehen, um Sturmflutschäden auszubessern und Strände aufzuschütten. Auf Langeoog wurden gut 450.000 Kubikmeter Sand neu aufgespült.

Womit wir bei den Kosten wären. In Deutschland sind zwischen 2000 und 2021 durch die Auswirkungen des Klimawandels wirtschaftliche Schäden in Höhe von mindestens 145 Milliarden Euro entstanden. Bis 2050 werden, je nach Szenario, voraussichtlich noch einmal 280 bis 900 Milliarden Euro hinzukommen. Das ergibt eine aktuelle Studie des Bundes­ministeriums für Klimaschutz.6 Weltweit sei aufgrund der Erderwärmung bis 2050 bereits mit einem Einkommensverlust von 19 Prozent zu rechnen und zwar selbst dann, wenn die globalen Treibhausgas-Emissionen ab heute drastisch reduziert würden, so das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung mit Verweis auf eine jüngst in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichte Analyse. Die zu erwartenden Schäden sind demnach sechsmal höher als ihre Vermeidungskosten, sprich die Begrenzung der Erderwärmung auf zwei Grad.7

Die Kollision des Menschen mit den physikalischen Grenzen des Planeten wäre theoretisch vermeidbar gewesen. Schon vor mehr als fünfzig Jahren haben Wissenschaftler gewarnt: „Vorsicht, Klimawandel voraus! Kurs ändern, sonst könnte es gefährlich werden.“ Gehört hat auf die Forscherinnen und Forscher niemand. Ganz im Gegenteil, die Politik hat Kurs gehalten – und die Fahrt beschleunigt. Wachstum, Wachstum, Wachstum!

 

Über Jahrhunderte war so etwas wie Wirtschaftswachstum praktisch unbekannt. Das änderte sich Anfang des 19. Jahrhunderts im Zuge der industriellen Revolution. Angetrieben von der Dampfmaschine begann die englische Wirtschaft zu wachsen. Das bedeutet, das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf – also die Summe aller im Inland erzeugten Güter und Dienstleistungen bewertet zu konstanten Preisen – war Jahr für Jahr höher als zuvor. Dieses neue Phänomen dehnte sich nach und nach auf den ganzen europäischen Kontinent aus, nach Nordamerika und im 20. Jahrhundert schließlich auf die ganze Welt. Das brachte fraglos viel Gutes für die Menschen in den Industrie­ländern, der so genannten „Ersten Welt“. Hygiene, Gesundheitsversorgung, Lebenser­wartung, Ausbildung, Ernährung, Wohnsituation: im Laufe der Jahre wurde alles besser. Die Bevölkerung wuchs. In harten sozialen Konflikten wurde um die Verteilung des wachsenden Reichtums gerungen. Aber im Großen und Ganzen galt: Fortschritt gleich Wachstum gleich Wohlstand für alle.

 

Heute geht es uns besser denn je – und am Wirtschaftswachstum führt kein Weg mehr vorbei. In ihrer Herbstprojektion rechnet die Bundesregierung für dieses Jahr mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,2 Prozent. Erst ab Anfang 2025 erwartet man eine Erholung der Konjunktur. Das gilt als Katastrophe. Als Abgesang auf unseren Wohlstand. Es könnte etwas dran sein, jedenfalls unter den Bedingungen einer global vernetzten Wettbe­werbswirtschaft. Millionen Arbeitsplätze hängen an wenigen Prozenten Wachstum. Die Renten, das Gesundheitssystem, die Pflegeversicherung, der Soli, das Bürgergeld, der Wert des Euros in unserer Hand und vor allem: der Aktienmarkt – alles hängt vom Wachstum ab.

 

Wir können nicht mehr zurück. Wir müssen die Maschine bedienen. Es muss weitergehen. Nie wurden mehr Kohle, Öl und Gas verbrannt als heute. Nie war der globale CO2-Ausstoß höher. Beides wird nach Einschätzung der etwa 120 Autorinnen und Autoren des Berichts „Global Carbon Budget 2024“ vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven künftig weiter zunehmen.8 Von Klimaschutz wird viel gelabert, aber es geschieht genau das Gegenteil.

 

Kein Wunder. „Der Mensch ist seine Infrastruktur geworden“, zitiert Marie-Luise Wolff den Biologen und Erdwissenschaftler Manfred Laubichler. „Wir haben mittlerweile fast unseren gesamten Planeten umkonstruiert, sagt Laubichler, drei Viertel der festen, eisfreien Erdoberfläche sei umgekrempelt, praktisch kein Quadratkilometer Erde nicht bearbeitet, nicht be- oder überbaut, unter- oder übertunnelt. Jedes Materialteil und jeder Mensch werde bald mit etwas anderem vernetzt sein. Das Gewicht des auf der Erdkruste aufgetürmten Materials übertreffe das Gewicht biologischen Materials der Erde bei Weitem. Wir sind unsere Technologie geworden, ist Laubichlers Diagnose. Eine empfindliche Folge der verdichteten Technosphäre sei, dass die meiste Energie, die wir verbrauchen, dafür aufgebracht wird, unsere heutige Infrastruktur und unser Leben darin zu erhalten.“9

 

Wir entnehmen der Erde Rohstoffe, formen sie zu Gütern um, erzielen damit Einkommen und überlassen den Müll der Umwelt. So hat es immer schon funktioniert. Alle haben gut verdient, nur die Natur wurde für ihre Leistungen nie bezahlt, deshalb ist sie heute völlig überschuldet. In Zeiten der Digitalisierung, der Dampfmaschine von heute, ist dieser Vorgang exzessiv geworden. Alles soll für alle zu jeder Zeit an jedem Ort möglichst preiswert verfügbar sein. Das ist das Versprechen der Tech-Konzerne. Würde man für die vergangenen zwanzig Jahre die Aufzeichnungen zur Entwicklung des Dow Jones Index und der globalen Klimaveränderung übereinanderlegen, so würden beide Kurven einen nahezu identischen Verlauf zeigen, der steil nach oben weist. Eine gewaltige Wette auf unbegrenztes Wachstum in einer Welt begrenzter Ressourcen. Da die Erde zu klein wird, soll der Mars es richten.

 

Und nun? Wie kommen wir aus der Nummer wieder raus? Als Privatperson glaube ich: gar nicht. Der Wachstumszwang ist zu stark. Der Wirtschaftskrieg zu hart. Rendite­erwartungen müssen erfüllt werden. Zinsen bedient. Autokraten regieren die Welt. Fake News verdum­men die Menschen. Milliardäre unterwandern die Demokratie. Es ist hoffnungslos. Aber das ist, wie gesagt, nur meine private Meinung. Als Klimaschutzmanager denke ich anders.

Als Klimaschutzmanager bin ich überzeugt: Es gibt Lösungen. Technische sowieso und an den sozialen können wir arbeiten. Ob die offizielle politische Schiene, „Wir können Wachstum und Ressourcenverbrauch entkoppeln, alles was wir brauchen sind erneuerbare Energien“, funktioniert, das wage ich zu bezweifeln. Die Titanic „Erde“ steht senkrecht im Wasser. Allein der Umstieg von einem Dieselaggregat auf einen Elektromotor wird uns nicht retten.

 

Meine Hoffnung ruht auf den Städten und Gemeinden. Je höher die politische Ebene, desto ideologischer häufig die Debatten und Entscheidungen. Die Wirklichkeit findet in den Gemeinden statt. Dort sind die Kindergärten, die Schulen, die Krankenhäuser, die Geschäfte, die Landwirte, die Handwerksbetriebe, dort entscheidet sich unsere Lebensqualität. Und unsere Gemeinden können wir gestalten. Wir können sie mit Strom und Wärme aus eigenen, sauberen Energiequellen versorgen und uns energetisch unabhängig machen. Wir können unsere Betriebe vor Ort unterstützen. Wir können auf regionale Bio-Landwirtschaft setzen. Wir können mehr Grün in unsere Dörfer bringen. Wir können mit dem Rad fahren. Wir können versuchen, uns ein wenig aus der „globalen Wert­schöpfungskette“ zurückzuziehen und dabei uns selbst und das Weltklima schützen. Wir können uns gegenseitig helfen. Wir können Insellösungen schaffen. Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr.

 

Quellen

 

1 Vgl. Marie-Luise Wolff, „2,8 Grad – Endspiel für die Menschheit“, Westend Verlag, 2023, S. 20/21

2 Vgl. https://wiki.bildungsserver.de/klimawandel/index.php/Kohlendioxidemissionen, 20.12.2024

3 Vgl. https://www.bmz.de/de/themen/klimawandel-und-entwicklung/folgen-des-klimawandels-124774, 20.12.24

4 Vgl. https://helmholtz-klima.de/aktuelles/die-bedeutung-der-meere-fuer-das-klima, 20.12.24

5 Vgl. https://worldoceanreview.com/wp-content/downloads/wor8/WOR8_de_Kapitel_2.pdf, S.58

6 Vgl. https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/kosten-klimawandel-2170246, 20.12.24

7 Vgl. https://www.pik-potsdam.de/de/aktuelles/nachrichten/38-billionen-dollar-schaeden-pro-jahr-19-einkommensverlust-weltweit-durch-klimawandel, 20.12.24

8 Vgl. https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2024-11/global-carbon-project-oel-gas-kohle-redkordhoch, 20.12.24

9 Vgl. Marie-Luise Wolff, „2,8 Grad – Endspiel für die Menschheit“, Westend Verlag, 2023, S. 31/32